„Schau mal!“, ruft ihr Mann und wuchtet mit der Schubkarre zwei Teile eines steinernen Torbogens zum alten Haus, das sie gerade sanieren. „Der soll als Segenswort über den Eingang,“ sagt er. „Ich hab ihn in einer Antikscheune gefunden.“ Sie liest die eingravierten Buchstaben: `Der Herr behüte…´und dann auf dem zweiten Teil: `…deinen Ausgang und Eingang´. Ich will keinen kaputten Segen!, denkt sie spontan. Aber sie schweigt, weil sie die Freude im Gesicht ihres Mannes sieht.
Ein paar Wochen später hängt der Segenswunsch über dem Eingang. Sie sieht die Zementnarbe zwischen den Bruchstücken. Ein geflickter Segen mit Narbe. Passt vielleicht, denkt sie – wir sind ja auch Leute mit Narben. Außen und innen. Sie fühlt die große Narbe vom schweren Fahrradunfall auf ihrem Oberschenkel. Die von der Fehlgeburt, bevor sie Tom bekommen haben. Die von der Angst um ihre Stelle im Herbst. Die von kleinen und großen Gemeinheiten und vom Grauen über das, was Menschen anderen antun. Immer wieder hat sie, wenn die Welt um sie zu dunkel wurde, ihren Glauben und ihre Hoffnung zusammenflicken müssen – Narbengewebe also auch hier.
In den kommenden Tagen schleppen sie ihre Sachen ins Haus – zum neuen Jahr wollen sie drin sein. Immer wieder liest sie: `Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang´. Und dann sieht sie Tom, der lachend durch sein neues Zimmer tobt. Sie drückt ihren Mann, dessen geschickte Hände ihnen ein Zuhause geschaffen haben. Sie freut sich über die Nachbarn, die ihnen ein Willkommensfest bereitet haben: „Wir sind da, wenn ihr uns braucht!“ Das Neue, das nun beginnt, kann tatsächlich schön werden. Und sie weiß wieder: Mit und unter den Narben ist auch immer das andere da. Die Kraft, die Liebe, die Freude. Der Segen. „Danke“, sagt sie in Richtung Segensspruch und zum Höchsten im Himmel darüber.
Mögen auch Ihre Wege im Jahr 2025 behütet sein!
Herzliche Grüße,
Ihre Sabine Schiermeyer,
Regionalbischöfin im Sprengel Ostfriesland-Ems