Sei nicht allzu gottlos – 22.02.2025

Dieser Tipp steht tatsächlich so in der Bibel (Prediger 7, 15-18): Sei nicht allzu gerecht und sei nicht allzu gottlos.

Eine Folgerung könnte sein: Ein bisschen gerecht ist okay, ein bisschen gottlos ist auch okay.

Ein biblisch-alter Rat, der zugleich als seelsorgerlicher Tipp wie auch als Tipp für das gesellschaftliche Zusammenleben gedeutet werden kann. Seelsorgerlich: Menschen können nicht vollkommen gerecht sein, deshalb sollen sie sich nicht darin verlieren, es von sich und anderen pausenlos zu erwarten – sie würden sich zugrunde richten, heißt es im Text. Und Menschen sollen andererseits nicht so tun, als wären sie dumm und nicht allzu gottlos handeln, weil sie laut Bibel nicht gottlos sind. In beidem können Menschen sich verlieren, in absoluter Gerechtigkeit und in völliger Gottlosigkeit. Also schlägt der Autor einen goldenen Mittelweg vor, der beides vereint: „Es ist gut, wenn du dich an beides hältst und die Extreme vermeidest.“ Bedeutet also: Kompromisse suchen, einen Mittelweg finden und die Extreme meiden. Das ist gut für die Seele.

Auch Martin Luther soll seinem Freund und Mit-Reformator Philipp Melanchthon den Rat gegeben haben: „sündige tapfer“. Melanchthon stand in der Gefahr, sich im alles richtig machen zu wollen, zu verlieren. So gab Luther ihm mit diesen Worten den seelsorgerlichen Tipp: meide das Extreme, suche den Mittelweg, sei nicht zu streng mit dir.

Ich sehe in den genannten Versen und in Luthers Spruch auch einen gesellschaftlichen Tipp, denn auch für das Zusammenleben gilt doch immer wieder: Kompromisse suchen, einen Mittelweg finden und die Extreme meiden. Vielleicht sogar ein Tipp zur morgigen Bundestagswahl!?

Den goldenen Mittelweg nennt der biblische Autor Ehrfurcht oder Gottesfurcht, zwei alte Begriffe, die wir heute neu entdecken, neu beleben können. Ehrfurcht/Gottesfurcht meint: Respekt, Anerkennung, Hingabe, Güte, Demut und auch Nachfragen und Staunen vor dem „großen Ganzen“, vor etwas Höherem, etwas Göttlichem, Gott. 

Ehrfurcht lädt ein zum Innehalten, zum Bedenken, zum Mittelweg finden. Ehrfurcht lädt ein, sich im großen Ganzen einzuordnen, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, aber auch nicht zu unwichtig. Mit solch einer Ehrfurcht kann mensch sich selbst und seiner Umwelt gütig begegnen.

Holger Baller,

Pastor der Evangelischen Gemeinschaft Rhauderfehn